Auf der Jagd nach der letzten Chance

Niklaus Rutschi ist am CSIO St. Gallen auf der Jagd nach der letzten Chance

Der Berner gilt als Entdeckung unter den Schweizer Springreitern in diesem Frühling. Er hat gute Chancen, heuer erstmals in seiner Karriere an einem grossen Championat als Stammreiter zu starten, im Alter von 53 Jahren. Der CSIO ist für ihn eine Bewährungsprobe.

Als der Journalist anruft, ist Niklaus Rutschi auf seinem Hof im luzernischen Alberswil am Ausreiten. Aber «kein Problem» sei das, sagt er, er könne die paar Fragen auch auf dem Pferd beantworten. Rutschi mag es unkompliziert, «währschaft», wie sich der Schweizer Equipenchef Andy Kistler ausdrückt: «Er ist sicher nicht der Typ für Schickimicki.» Rutschi sei einer, der sage, was er denke, berichten Wegbegleiter. Man wisse bei ihm, woran man sei, auch seine hohen Ambitionen betreffend.

Gegen den Willen des Vaters

Niklaus Rutschi ist unter den Springreitern die Entdeckung dieses Frühlings. Vor zwei Wochen, als in La Baule die Nationenpreis-Serie mit einem Schweizer Sieg gestartet war, blieb er fehlerfrei, zusammen mit dem Weltranglisten-Ersten Steve Guerdat. Und am vergangenen Sonntag doppelte Rutschi nach, mit dem Sieg im 4-Sterne-Grand-Prix in Bourg-en-Bresse. Für den CSIO St. Gallen von diesem Wochenende hat er sich einen Platz in der Equipe gesichert – aber darf man das überhaupt, einen 53-Jährigen als Entdeckung bezeichnen?

Unbestritten ist: Kaum einer hat so viele Hindernisse überwinden müssen wie er, um so ein Niveau zu erreichen. Rutschi stammt aus einer Berner Metzgerfamilie, die einst wenig mit dem Pferdesport zu tun hatte. Da er der einzige Sohn war, hätte er die elterliche Metzgerei übernehmen sollen. Gegen den Willen des Vaters entschied er sich für die Reiterei. Neben den Turniereinsätzen muss Rutschi heute einen Hof in Schuss halten. Einen «200-Prozent-Job» habe er, sagt Rutschi, und ohne die Opfer seiner Familie ginge es nicht.

Rutschi gilt seit je als «Chrampfer», als starker Ausbildner. Mangelndes Talent hat er mit Fleiss kompensiert. Immer wieder brachte er gute Pferde nach oben, aber er hatte weniger finanzielle Unterstützung im Rücken als andere, und so fehlte ihm lange ein Partner, mit dem er sich an der Spitze behaupten konnte. Mit Windsor schien dieses Pferd gefunden. Rutschi schaffte es ins Aufgebot für die EM 2015 in Aachen, doch dort war er nur Ersatzmann – und wenig später musste sich Windsor aus dem Leistungssport verabschieden. Also, nächster Versuch.

Rutschi setzte nun auf Cardano, einen Wallach. Seine in Frankreich lebende Mäzenin Trudy Graf hatte diesen 2008 an einer Fohlen-Auktion in Ruswil erworben, für aus heutiger Sicht bescheidene 24 000 Franken. Das Tier entwickelte sich prächtig, wurde zum «Schweizer Pferd des Jahres 2017» gewählt. «Ein Pferd, das einfach zu reiten ist, wenn es sich abseits der Turniere austoben kann», sagt Rutschi. Doch im vergangenen Jahr, just als es um die Qualifikation für die WM ging, musste es wegen einer Verletzung mehrere Monate pausieren.

 

Gute Aussichten für die EM

Nun ist Cardano zurück, fitter denn je. Und ja, vielleicht kommt sie doch noch, diese Chance, dass Rutschi im hohen Sportleralter erstmals als Stammreiter an einem grossen Championat startet. Die Aussichten für die EM im August in Rotterdam stehen gut, die Olympischen Spiele 2020 sind nicht weit. Die WM-Teilnehmer Janika Sprunger und Werner Muff haben ihr jeweiliges Toppferd abgeben müssen. Rutschi glaubt nicht, dass ihm dasselbe widerfährt.

Der Equipenchef Kistler gibt vielen Reitern die Gelegenheit, sich aufzudrängen. Mit Paul Estermann, 55, und Pius Schwizer, 56, steht Rutschi für die ältere Generation im Schweizer Team, die sich dem landwirtschaftlichen Milieu zugehörig fühlt – für das Weltmännische stehen eher Guerdat und Martin Fuchs.

Vor dem CSIO gibt sich Rutschi gelassen. Er sagt, seine reitenden Söhne hielten ihn jung. Aber dass die Zeit gegen ihn läuft, spürt er selber auch. Er wisse tatsächlich nicht, ob er nach 2020 noch einmal die Ressourcen habe, um ein unerfahrenes Pferd von der Basis aus in die Weltklasse zu führen.

Und so ist Rutschis Start in St. Gallen auch so etwas wie eine der letzten Bewährungsproben. Der Equipenchef Kistler nutzt den CSIO gerne, um Emporkömmlinge darauf zu testen, ob sie mit der erhöhten Erwartungshaltung zurechtkommen. Beat Mändli im vergangenen Jahr hielt dem Druck nur bedingt stand, nachdem er in Nordamerika abseits des Rampenlichts mehrmals brilliert hatte. Sollte es Niklaus Rutschi besser ergehen, wäre das für ihn die Bestätigung, dass es sich lohnt, nie den Glauben an die eigenen Stärken zu verlieren.